Gezeiten


Heute berichte ich gleich über zwei Ateliertage. Zum ersten Mal seit der 5. Primarschule (!) arbeitete ich wieder an einem Linolschnitt.

Ich wagte mich damit an das Thema “Zeit”, die Vorgabe für unser nächstes Kunstzmittag. Allerdings entschied ich mich für das damit verwandte Wort “Gezeiten”. Ich denke dabei nicht nur an Ebbe und Flut in der Natur. Mich faszinieren auch die Gezeiten des menschlichen Lebens. Wenn man nämlich darauf achtet, leben auch wir in einem ständigen Auf und Ab. So gibt es zum Beispiel produktive Zeiten und Ruhephasen, die sich fast abwechseln müssen, wenn man einigermassen ausgewogen leben möchte.

Ich recherchierte etwas zum Thema und fand heraus, was den Gezeiten zugrundeliegt, nämlich die Kombination von Gravitation und Fliehkraft. Sehr gut erklärt wird dies in diesem Video. Ich las, dass die Orkney Islands im Norden von Schottland den grössten Unterschied zwischen Ebbe und Flut erleben. Die entsprechenden Wellen können eine Höhe von 19 Metern erreichen! Daher experimentiert man auch damit, Energie daraus zu gewinnen, was super spannend ist! Für meinen Beitrag zum Kunstzmittag suchte ich ein Foto von den Orkney Islands und nahm inspiriert davon meine Linolplatte in Angriff.

Als blutige Anfängerin benutzte ich zuerst das unpraktischere und anstrengendere Werkzeug, das ganz oben auf dem Foto sichtbar ist. Nicht nur schnitt ich mich damit dreimal in verschiedene Finger, sondern das Ende des Griffs verursachte eine Druckstelle in der Handinnenfläche, die sich in Form eines Kribbelns bemerkbar machte – vermutlich verlaufen dort ein paar Nerven… Zum Glück hatte ich mir auch das bessere Werkzeug bestellt und verwendete dann am zweiten Ateliertag dieses. Es hat einen runden Holzgriff, die Hohleisen sind auswechselbar und die Arbeit damit benötigt weniger Kraft. Zu sehen ist das Werkzeug ganz unten.

Das Schnitzen dauerte ca. 1 1/2 Tage. Danach wagte ich mich an den ersten Probedruck. Bereits nach Auftragen der Farbe auf die Platte wurde deutlicher ersichtlich, was entstehen könnte. Trotzdem war die Spannung vor dem ersten Druck gross. Vielleicht ist dies am ehesten vergleichbar mit den analogen Kameras, die man früher hatte. Damals wusste man nicht, ob die Fotos gelungen waren, bis man dann endlich die physischen Abzüge in den Fingern hielt. So ähnlich fühlte ich mich hier.

Dies ist der erste Abzug. Erstaunlicherweise sind darauf die Vögel sehr gut zu erkennen; beim Schnitzen hatte ich befürchtet, sie seien mir völlig missraten. Der untere Bildteil wurde von einer Testperson jedoch nicht als Meer oder Wasser wahrgenommen. Also griff ich nochmals zum Werkzeug. Der zweite Abzug sieht dann wie folgt aus:

Das Gute daran ist, dass man das Meer und die Wellen nun erkennen kann. Und das ist wichtig, wenn es doch um die Gezeiten geht!

Was ich beim Schnitzen nicht bedacht hatte, ist, dass der Druck natürlich seitenverkehrt zur Linolplatte herauskommen wird. Vermutlich ist das Geschmacksache, aber mir gefällt tatsächlich die Ausrichtung der Platte besser als diejenige des Drucks. Hier daher ein gespiegeltes Foto davon (mit dem “guten” Werkzeug):

Mein Fazit nach diesem ersten Linolschnitt: Es hat Spass gemacht! Wie das dreidimensionale Arbeiten ist auch das Schnitzen an einer Linolplatte etwas recht Körperliches. Man muss aufpassen, dass man sich nicht allzu häufig schneidet; ausserdem hatte ich nach dem ersten Ateliertag Muskelkater im linken Oberarm (vom Drücken und Dagegenhalten der Platte gegenüber dem Werkzeug).

Vielleicht habe ich mir da für den ersten Versuch ein etwas komplexes Sujet ausgesucht? Wenn man nämlich Linoldrucke googelt, trifft man meist auf einfachere Formen oder Figuren. Was ich auch feststellen musste, ist, dass allzu feine Formen wie zum Beispiel die Vögel schwierig zu bewerkstelligen sind. Das liegt vor allem am Material und Werkzeug.

So gibt es sicherlich noch viel Luft nach oben; Übung macht ja bekanntlich den Meister. Ob ich das gleiche Sujet jedoch nochmals neu schnitzen möchte, weiss ich noch nicht.